Der Rabe

März 1987: das Ende meiner ersten Ehe. Um meine gescheiterte Beziehung aufzuarbeiten, suchte ich mir eine Stelle in einer Therapiegruppe.

Unser Therapeut machte der Gruppe das Angebot, uns 20 Minuten vor Beginn der Therapie einzufinden, um uns mit einer Meditation auf die Therapie vorzubereiten. Ich hatte noch nie meditiert und war neugierig. Rechtzeitig vor meiner ersten Therapiestunde traf ich ein.

Ruhige Musik - ich schloss meine Augen ...

… Ziellos trippelte ich zwischen umgestürzten Grabsteinen umher. Rings um mich verfallene Gräber. Der Himmel über mir trist und grau. Er weinte bittere Tränen. So lange ich mich erinnern konnte, war hier mein zu Hause. "Menschen - wo waren die Menschen?"

Ungemütlich und nass war es. Dick aufgeplustert stelzte ich über den braunen Morast. Angewidert bemerkte ich, wie die klebrige Masse mein glänzendes Federkleid beschmutzte. Angewidert schüttelte ich mein schwarzes Gefieder. Menschen - was für Menschen?

Außer dem stetigen Heulen des Windes war kein anderer Laut zu hören.

Was gingen mich die Geschöpfe der Erde an? Ich war ein Geschöpf der Luft! Ich brauchte nur meine Schwingen auszubreiten, irgendwo würde ich dann meines Gleichen finden. Ich blickte auf. Erst jetzt bemerkte ich die mächtige Kirche. Einst ein stolzes Bauwerk, stand nun nur noch eine alte Ruine: zerbrochene Fenster, Teile des Daches fehlten, anstelle des Eingangs gähnte ein riesiges Loch. Einzig die dicken steinernen Mauern waren heil geblieben. Sie füllten mein ganzes Blickfeld aus. Auch diese Kirche war ein Teil meines zu Hause. Wieso bemerkte ich sie erst jetzt? Bestimmt gab es dort drinnen ein trockenes Plätzchen für einen wie mich.

Ich breitete meine Flügel aus, erhob mich vom Boden und lenkte meinen Flug auf eines der Fensterlöcher.

Langsam kreiste ich durch das Kirchenschiff. Unter mir Glassplitter, zerbrochenes Holz, und die Überreste eines umgestürzten Steinkreuzes. Trotzdem die Dachreste den Regen hier an vielen Stellen erträglicher machten, wollte ich mich nicht niederlassen. Dort, wo ich über mir den Himmel erblicken konnte, ließ ich mich höher steigen. Weiter und weiter hinauf, bis dicht unter die Wolken.

Tief unter mir erblickte ich die Kirche. Wie ein Spielzeug so klein, drum herum ein alter Friedhof und hinter der Friedhofsmauer begann die Welt.

Die Wolken hatten sich verzogen; über mir war der blaue Himmel und unter mir zogen saftige Wiesen und sanfte Hügel dahin. Ich genoss es, von der Luft getragen zu werden. Nichts, um das ich mir Sorgen machen musste. Nur Menschen konnte ich keine erkennen - Menschen?

Ich flog einen großen Kreis: Außer mir gab es keinen anderen Vogel in der Luft!

Langsam ließ ich mich im Luftstrom tiefer sinken und flog dicht über den Wipfeln lichter Wälder und über grüne Wiesen dahin, bis ich ans Meer kam. Ich änderte meine Richtung, wieder flog ich dicht über dem Boden und suchte so lange, bis mir das Meer erneut die Grenzen meiner Welt zeigte. Ich musste mich wohl auf einer Insel befinden. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand kein anderes Lebewesen. Zugegeben, meine Insel war schön, doch wie gerne hätte ich meine Eindrücke mit jemand anderem geteilt. Nur die Leichtigkeit, mit der ich durch die Luft glitt, half mir meine Trauer etwas zu mildern …

weiter: Die Räbin

 

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